Die Abiturprüfungen sind vorbei. Gerade laufen die Prüfungen zum qualifizierten Hauptschulabschluss. Ich habe in der vergangenen Woche die Ergebnisse in evangelischer Religion korrigiert. Wie das halt immer bei Prüfungen ist, wird es Freudengeschrei und Tränen der Enttäuschung geben. Aber eins sollte uns immer klar sein: die Leistungen bestimmen nicht den Wert eines Menschen. Und Niederlagen können einen stark machen.
Dazu die folgende kurze Geschichte: Die Fünf lag vor mir wie ein Todesurteil. Um mir herum dröhnte der Jubel der anderen: Ich hab 'ne Zwei, ich hab 'ne Zwei ... 'ne Eins, 'ne glatte Eins ... Die Stimmen überschlugen sich, mein Tischnachbar streckte immer wieder die Fäuste triumphierend in die Luft. Ich guckte mich verstohlen um: Was war denn mit Jana, die war doch sonst auch nicht so gut in Mathe? Und Hohni und Luca? Wie oft war'n die schon über eine Gleichung gestolpert! „Die Prüfung ist hervorragend ausgefallen", hörte ich die Stimme von vorn, „jede Menge Zweien und Dreien und - nur eine Fünf." Nur eine Fünf, eine Fünf nur - und die hatte ich. Ich sackte in mich zusammen, wurde noch kleiner als ich sowieso schon war. „Fang jetzt bloß nicht an zu heulen." Ich biss mir auf die Unterlippe, und dann klingelte es irgendwann, und ich schlich nach Hause.
Wir haften Besuch. Auch das noch! Onkel Ernst war da, dieser Erfolgsmensch. Ein hohes Tier in der Industrie, 7-er BMW und so ... Ich versuchte, mich sofort in mein Zimmer zu verdrücken, aber meine Mutter hatte gute Ohren und jetzt saß ich da und versank in dem braunen Sofa. Mein Vater sah gleich, dass was mit mir nicht stimmte; und ich wusste: langes Hinhalten ist zwecklos. Wortlos legte ich die Mathearbeit auf den Tisch. Aber bevor mein Vater reagieren konnte, hatte Onkel Ernst sich schon die Arbeit geschnappt und hielt sie in die Höhe. Und dann, dann sagte er was, das hab ich bis heute nicht vergessen: „Junge", sagte er lachend, „Junge, 'ne Fünf in Mathe, davon hab' ich ein halbes Dutzend zu bieten. Einmal hat's mich sogar die Versetzung gekostet. Aber im Nachhinein muss ich sagen: Das war das Beste, was mir passieren konnte! Wer in seinem Leben nie 'ne Fünf gehabt hat, wie will der denn später mit Niederlagen im Leben fertig werden? Sei froh über die Fünf und jetzt geh - und hier - kauf dir zur Belohnung einen Fußball. Ach und noch was: Heute Abend, da lässt du dir mal die Zeugnisse von deinem Vater zeigen - aus dem ist ja auch was Vernünftiges geworden. Du wirst schon sehn, warum ..."
Ja, wir müssen – Gott sei Dank – nicht perfekt sein und alles können. Wer das weiß und wer gelernt hat, mit Niederlagen umzugehen, ist fit fürs Leben. Paulus hat schon recht: Wir werden ohne Verdienst gerecht allein aus seiner Gnade – Gott sei Dank.
Sonntagsbetrachtung von Pfr. Norbert Heinritz, erschienen im Schwabacher Tagblatt am 27.6.2015