Am Anfang meines Theologiestudiums habe ich ein Gespräch geführt, von dem ich ihnen erzählen möchte. Es war Frühling und ich war in Coburg. Nach dem Tischtennistraining war ich noch mit ein paar Mitspielern auf der Terrasse gesessen und wir haben was getrunken. Soweit nichts Ungewöhnliches. Und wie wir so zusammensaßen fiel das Gespräch dann auf mich. Einer meiner Mitspieler sagte zu mir: "Du Julian, du studierst doch jetzt Theologie." Alle Alarmglocken in meinem Kopf gingen an, Gespräche die so eingeleitet werden sind meistens sehr anstrengend. Oftmals möchte einen dann jemand davon überzeugen, dass es Gott doch gar nicht gibt. Oder aber jemand will sich rechtfertigen, dass er leider nie dazu kommt in die Kirche zu gehen, aber dennoch doch ein guter Christ sei. Oder man erfährt von Dingen, die den Gegenüber belasten. Oft ist auch der Tod ein Thema.
Jedenfalls, allein diese Gesprächseröffnung: "Du studierst doch jetzt Theologie" hat bei mir ausgelöst, dass ich mich aufrecht hingesetzt habe, das Getränk beiseite gestellt und auf alles vorbereitet war. Und meine Befürchtungen bestätigten sich. "Wenn es Gott gibt, warum lässt er dann zu, dass so viel Schlimmes passiert? Überall auf der Welt geschehen Dinge, die nicht passieren sollten. Wieso ist das so?" Tja, da war sie also wieder, die Gretchen Frage. Und ich, ambitionierter Theologiestudent, werde die doch wohl beantworten können. Ich dachte nach. "Ich denke, dass schlimme Dinge passieren liegt in der Natur der Dinge. Wir sind vor Gott frei und diese Freiheit, die bringt eben auch positives wie negatives mit sich." Das war gut, dachte ich mir. Eine theologische Antwort, kurz zusammengefasst, das ist es.
"Aber wir entscheiden uns doch nicht für die schlimmen Sachen. Manche Dingen passieren einfach so. Ohne dass wir etwas dafür können oder beitragen." wurde mir erwidert. Mittlerweile hatte unser Gespräch auch die Aufmerksamkeit der anderen Tischtennisspieler. Gebannt schaute man mich an und wartete, was ich jetzt sagen würde. Fieberhaft dachte ich nach, überlegte welche Theologen, welche Professoren was sagen würden. Aber ich war natürlich auf mich allein gestellt. "Öhm, vielleicht hat Gott einfach einen Plan, den wir nicht verstehen. Aber alles hat seinen Grund. Nichts passiert ohne Grund." "Wo ist der Grund, wenn Tausende Menschen in einem Tsunami sterben. Wo ist der Grund, dass Menschen wegen ihres Glaubens umkommen?" Schachmatt. Ich wusste nicht mehr weiter. Damals nicht. Der ambitionierte Theologiestudent war nicht in der Lage, eine befriedigende Antwort zu geben. Die Wissenschaft der Theologie, zumindest mein Wissen, hat nicht gereicht. Das Schöne an so Stammtischgesprächen ist, dass man schnell ein neues Thema anfängt. Es ging dann weiter, wahrscheinlich haben wir über Fußball geredet. In meinem Kopf jedoch war immer noch dieses Gefühl, keine Antwort auf eine existentielle Frage gehabt zu haben.
Ich musste an dieses Ereignis denken, als ich die Epistel für den heutigen Sonntag gelesen habe. (Römer 11, 33-36)
33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«?
35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«?
36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Paulus ist im Römerbrief auch vor ein für ihn unlösbares Problem gestellt. Die Frage, nach Gottes Erwählung für das jüdische Volk in Hinblick auf das Christentum. Paulus, ein Judenchrist, versucht zu erklären, wieso eben nicht mehr nur das Volk der Juden sondern nun auch Heiden und generell alle von Jesus auserwählt wurden. Paulus Problem war, nicht alle Juden wurden damals Christen, das wissen wir. Viele hielten an ihrem Glauben fest. Waren sie nun verworfen? Hat Gott, nach seinen Versprechen an das Volk Israel, sich plötzlich umentschieden? Wie passt das zusammen, dass Jesus nicht nur das erwählte, gottestreue Volk Israels belohnt, sondern plötzlich für alle gekommen ist. Und wenn er für alle gekommen ist, wieso erkennen das dann nicht alle, so wie Paulus? Paulus kann nicht anders als zu erkennen, dass Gottes Wege einfach unerforschlich sind. Er versteht sie nicht, doch er nimmt sie an. Paulus, der Christ wurde, musste akzeptieren, dass nicht jeder seinen Glauben und seine Erkenntnis von Christus teilte.
Und dabei ist Paulus nicht der einzige, der mit seinem Gottesverständnis an Grenzen gekommen ist. Martin Luther, unser Luther, der hat sich mit der Frage auch auseinander setzen müssen, die Paulus im Römerbrief stellt: "Wie unerforschlich sind Gottes Wege?" Er hat darüber ausgiebig mit Erasmus von Rotterdam, einem Gelehrten, vielleicht dem klügsten Kopf der damaligen Zeit, von der Universität Paris, gestritten. Erasmus war der Meinung, dass man Gott verstehen könne. Er versuchte, seinen Glauben mit Logik und Vernunft darzulegen. Martin Luther jedoch erklärte, dass das niemals möglich sei. Wörtlich sagte er: "Was über uns ist, das geht uns nicht an." Was über uns ist, das geht uns nichts an.
Damit meint er nicht, dass man keine Theologie betreiben soll. Damit meinte Luther vielmehr, dass es arrogant und anmaßend ist zu denken, man verstünde Gottes Wege. Zu glauben, dass man verstehen könnte, wie Gott denkt, das ist für Luther Gotteslästerung. Und wie so oft, beruft er sich auf die Bibel, genauer auf eben jenen Satz im Römerbrief: "Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt?"
Ich muss also feststellen, dass nicht nur ich am Stammtisch, sondern auch Paulus und Luther mit ihrer Logik an Grenzen gestoßen sind. Das ist auf der einen Seite für mich beruhigend. Wenn auch diese beiden Schwergewichte der Theologie nicht auf alles eine Antwort haben, wieso sollte ich das dann können? Auf der anderen Seite können wir jedoch nicht einfach sagen, dass uns Gott nichts angeht. Dass wir Gott gar nicht verstehen und erfassen können. Wir brauchen doch einen Gott, an den wir uns wenden können. Menschen brauchen etwas Handfestes.
Doch auch hier hatte Martin Luther eine Antwort. Gott, den Verborgenen, können wir nicht begreifen. Allerdings hat er sich offenbart. Er ist in Martin Luthers Augen nicht ganz verborgen. Er hat sich den Menschen gezeigt als dreieiniger Gott. Die Trinität bedeutet nicht, dass wir drei Götter haben. Vielmehr ist sie ein Werkzeug, mit dem wir Gott wahrnehmen können. Als Vater und Schöpfer, der über uns steht. Als Sohn, der Mensch geworden ist und uns versteht. Und als Geist, der in uns ist und wirkt. Der uns hilft ins Glaube, Liebe und Hoffnung zu leben als Gemeinschaft.
Für uns Christen wirkt die Trinität häufig wie etwas schweres, kaum verständliches. Wofür brauchen wir den Geist? Ist Gottes Sohn Jesus nicht ein zweiter Gott? Warum sollte ich zu Jesus beten und nicht zu Gott? Die Trinität ist, oberflächlich betrachtet, eine komplizierte Angelegenheit. Doch wenn man darüber nachdenkt, dann ist sie Hilfe um Gott begreifen zu können. Sie macht den Glauben ein Stück weit persönlicher. Sie bringt uns Gott näher. Durch sie haben wir einen Vater oder eine Mutter, die uns liebt, vergibt und uns verzeiht. Jemanden, der uns behütet und bewahrt. Und wir haben Jesus Christus, der Mensch war. Der uns versteht und unsere Ängste und Sorgen kennt. Jemanden, der uns gezeigt hat, dass der Tod für uns Menschen nicht das Ende ist, sondern dass wir das ewige Leben haben. Und wir haben die Hoffnung. Die Stärke und die Zuversicht, die uns der heilige Geist gibt. Wir haben die Gemeinschaft der Kirche, die für uns hier auf der Erde da ist. Eine Gemeinschaft, die wichtiger ist, als es viele merken. Das Gefühl, dass man nicht allein und unwichtig ist, sondern immer einen Ort hat, wohin man gehen kann. Das heißt nicht, dass es drei unterschiedliche Götter sind. Vielmehr ist es ein Gott, der sich für die Menschen unterschiedlich verständlich macht.
Die Trinität, der dreieinige Gott hilft uns, dass wir diesem unbegreiflichen Gott näher sind. Aber sie beantwortet uns leider nicht alle Fragen. Der Glaube ist nach wie vor eine Gefühlssache. Etwas, was man schwer erklären kann. Und noch viel schwerer logisch nachweisen oder erklären. Wir können uns nur auf Gott einlassen. Ihm Vertrauen und uns an ihn wenden.
Meine Situation vom Anfang, die Frage, die mir am Stammtisch gestellt wurde. Wie würde ich sie heute wohl beantworten? Gar nicht, weil ich es leider nicht kann. Weil ich bei aller Logik und allem Verstand, den ich vielleicht habe, an meine Grenzen komme. Weil ich feststellen muss, dass der Glaube keine reine Vernunft ist, sondern mehr. Ich wüsste selber gerne, warum viele Dinge passieren. Ich wüsste auch gerne, warum es Übel in der Welt gibt. Warum Gott sie nicht wegnimmt. Ich will auch wissen, warum Menschen Trauer erleben, warum sie leiden müssen. Und wenn ich die Meldungen im Fernsehen sehe, von Flugzeugabstürzen und ertrinkenden Kindern, dann will ich auch wissen, warum das passiert. Verstehen könne wir es nicht, ich zumindest.
Doch wie sagt Paulus es mehr als treffend: "Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!" Statt nach dem zu suchen, was wir nicht können, muss man nach den Dingen suchen, die wir verstehen. Bei allem Leid wissen wir, dass wir nicht alleine sind. Wir haben den dreieinigen Gott, an den wir uns wenden können. Wir dürfen ihm danken und ihn loben. Wir dürfen aber auch zu ihm schreien und wütend sein. Wir dürfen Klagen und er hört uns. Gott will uns immer trösten. Und er gibt uns die Kraft, dass wir leben können.
Ich feiere Trinitatis, weil Gott für mich da ist. Ich bete zu Gott, weil ich weiß dass er mich hört. Ich klage zu Gott, weil ich weiß dass ich ihm nicht egal bin. Ich vertraue auf Gott und seine Barmherzigkeit. Es ist keine rationale Entscheidung. Ich muss nicht alles verstehen, um glauben zu können. Das mag für manche unbefriedigend sein, da man doch immer alles ganz genau wissen muss. Für mich hat es aber auch etwas Befreiendes. Es ist schön, auf jemanden aus der Tiefe des Herzens vertrauen zu dürfen. Auf Gott, den Vater, den Sohn und den heiligen Geist. Oder wie Paulus abschließt: Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus. Amen.
Vikar Julian Deusing am 22.5.2016