Predigt zum Ewigkeitssonntag von Pfr. Norbert Heinritz

Liebe Gemeinde,

eine junge Frau, gerade einmal 30 Jahre alt, sitzt auf einer Schaukel und genießt den Augenblick. Das Schwingen des Körpers nach vorn und nach hinten, die Schwerelosigkeit, die Erinnerung an die glücklichen und ausgelassenen Tage der Kindheit. Übermütig flattert ihr Tuch im Wind. Glück.

„Dann ließ sie die Schaukel wieder langsam gehen und sprang herab und nahm wieder Niemeyers Arm. ‚Effi, du bist noch immer, wie du früher warst.‘ – ‚Nein. Ich wollte, es wäre so. Aber es liegt ganz zurück, und ich hab’ es nur noch einmal versuchen wollen. Ach, wie schön es war, und wie mir die Luft wohltat; mir war, als flög’ ich in den Himmel. Ob ich wohl hineinkomme? Sagen Sie mir’s, lieber Freund, Sie müssen es wissen. Bitte, bitte …‘ Niemeyer nahm ihren Kopf in seine zwei alten Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: ‚Ja, Effi, du wirst.‘“

Ja, Effi, du wirst. – In diesen vier Worten, liebe Gemeinde, liegt das ganze Evangelium, die frohe Botschaft, die uns Christen im Leben und im Sterben trägt. In diesen vier Worten öffnet der alte Mann der jungen Frau den Himmel, schenkt ihr Trost und die Gewissheit, dass Gott sie bei sich haben will. Sie haben die Szene vielleicht erkannt. Die junge Frau ist Effi Briest. Todkrank ist sie, am Ende des Romans von Theodor Fontane wird sie sterben. Mit ihren 30 Jahren schaut sie zurück auf ein Leben, das seine Bahn verloren hat, zerbrochen an den Konventionen der bürgerlichen Moral des wilhelminischen Zeitalters.

Auf Druck ihrer Mutter heiratete Effi als 17-Jährige einen 21 Jahre älteren Mann. Der vernachlässigte seine Frau, die an ihrem hinterpommerschen Wohnsitz immer einsamer wurde. Effi ließ sich auf ein Techtelmechtel mit einem leichtfüßigen Offizier ein, das ein Ende fand, als die Familie nach Berlin zog. Jahre später erfuhr ihr Ehemann von der Affäre, tötete im Duell den Ex-Liebhaber und ließ sich von seiner Frau scheiden – wohlwissend, dass er damit ihr Leben zerstörte. Geächtet darf Effi erst, als sie todkrank ist, in ihr Elternhaus zurückkehren. Dort trifft sie den alten Pfarrer Niemeyer wieder. Dieser Pfarrer schafft es, alle bürgerlichen Konventionen zur Seite zu schieben. Er sieht die Not der Seele, die drängende Angst in der Frage: Ob ich wohl in den Himmel komme? Und beantwortet sie auf die einzige Art und Weise, die der Botschaft Jesu, die dem Evangelium entspricht: „Ja, Effi, du wirst.“  

Viele von Ihnen, liebe Gemeinde, sind heute hier im Gottesdienst, weil sie in den vergangenen Monaten einen lieben Menschen verloren haben. Und jeder und jede von uns heute, mich eingeschlossen, musste schon von jemanden Abschied nehmen, der einen so sehr ans Herz gewachsen war. Da ist der Schmerz des Abschieds. Da sind die vielen Erinnerungen an das, was man gemeinsam erlebt hat. Da sind die Bilder, die in ruhigen Minuten oder nachts im Traum aufsteigen. Bilder vom Glück, Bilder von schönen Erlebnissen, Bilder von Schuld vielleicht auch. Da holt man sich ab und an die alten Fotoalben aus dem Schrank und hängt vergangenen Zeiten nach. Freude, Dank, Trauer, Schmerz und Angst, alles eng ineinander verwoben.

Da kommen die Fragen: Wo ist er jetzt, mein geliebter Mensch? Ist er in den Himmel gekommen? Werde ich aus dem Durcheinander der Gedanken und Gefühle herauskommen? Werde ich es schaffen, ohne ihn weiterzuleben? Und werde ich in den Himmel kommen? – Ja, Gottes Kind, du wirst. Das ist das Evangelium. Die frohe Botschaft. Ja, Gottes Kind, du wirst. Das was du glaubst, wirst du einst sehen - um Jesu willen.

Der Mann, der da im Gefängnis sitzt um Jesu Willen, hat auch viele Fragen. Das Alter von 30 Jahren ist längst überschritten. Von Freiheit und Glück kann er gerade nur träumen. Er fragt sich: Was wird auf mich zukommen? Werde ich die Meinen wiedersehen? Was wird aus ihnen werden? Werde ich verurteilt, zu Tode verurteilt? Oder werde ich freigesprochen, kann weiterleben? - Immerhin darf er im Gefängnis Briefe schreiben. Und so schreibt der Apostel Paulus an seine Freunde, an seine geliebte Gemeinde in Philippi, diese Worte für unseren Gottesdienst heute, die wir im 1. Kapitel des Philipperbriefs lesen können:

Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.  Weil ich aber mehr für Christus erreichen kann, wenn ich am Leben bleibe, weiß ich nicht, was ich mir wünschen soll. Ich bin hin- und hergerissen: Am liebsten würde ich schon jetzt sterben, um bei Christus zu sein. Das wäre das Allerbeste! Andererseits habe ich bei euch noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass ich weiterleben werde und euch allen erhalten bleibe. Dann will ich euch helfen, damit euer Glaube wächst und eure Freude auf diese Weise noch größer wird. Wenn ich erst wieder bei euch bin, werdet ihr noch mehr loben und danken können für alles, was Jesus Christus durch mich getan hat. (Phil 1,21-26)

Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn. Provozierende Worte sind das, liebe Gemeinde, wo wir doch gerade das Gegenteil erleben. Wie schmerzhaft es ist, dass ein lieber Mensch gestorben ist. Wie soll das ein Gewinn sein? Hie und da eine Erlösung gewiss, eine Erlösung von den Beschwerden, von Krankheit und Alter. Hie und da auch das Aufatmen: er hat es geschafft, sie hat es geschafft. Aber ein Gewinn?

Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Den zweiten Teil des Satzes, kann man nur sagen, wenn man den ersten noch viel lauter und viele deutlich hervorbringt, ja förmlich herausschreit. Christus ist mein Leben. Nur deshalb kann man dem Sterben noch irgendetwas Positives abgewinnen.

Christus ist mein Leben. Für den Apostel Paulus heißt das: „Egal was kommt, egal wie es am Ende im Gefängnis ausgeht, egal ob ich wieder freikomme oder sterben muss, egal, wo mein Weg auch hinführt, ich bin in der Hand Christi. Der Tod hat keine Macht mehr.“ Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? (1Kor 15,54f) So konnte Paulus schreiben. Über den Tod konnte er nur noch lachen.

Christus ist mein Leben. Paulus will mit seinen Worten der Gemeinde in Philippi Mut machen. Er will uns Mut machen mit seiner ganz persönlichen Hoffnung auf Christus, unseren Herrn, für ihn die Kraft seines Lebens, die auch im Tod nicht endet. So fragt er nicht: Was wird mich einmal erwarten nach dem Sterben? Sondern: Wer wird mich einmal erwarten? Die Antwort: Er, Christus, der für uns gestorben ist. - Werde ich in seinen Armen landen? – Ja, Gottes Kind, du wirst.

Im Gefängnis auch ein anderer – Jahrhunderte später, noch keine 40 Jahre alt, im Kellergefängnis des Reichssicherheits­hauptamts in Berlin. Wegen seines Widerstandes gegen das Hitler-Regime war er verhaftet worden. Was ihn erwartet, ist ungewiss. Hin und hergerissen ist er zwischen Zweifeln und Hoffen. Zur Jahreswende 1944/45 schreibt der Gefangene Pfarrer und Theologe Dietrich Bonhoeffer an seine Verlobte nun diese tröstlichen, wunderbaren Zeilen: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Es ist Dietrich Bonhoeffers letzter erhaltener theologischer Text. Am 9. April wird er in Flossenbürg nach einem Schauprozess von den Nazis hingerichtet. Seine letzten Worte an einen Mitgefangenen: „Das ist das Ende. Für mich der Beginn des Lebens.“ Nur einen Monat später war der Krieg zu Ende.

Dietrich Bonhoeffer hat das Ende der Nazi-Herrschaft nicht erlebt. Der Apostel Paulus freilich kam damals aus dem Gefängnis frei. Er besuchte weiter seine Gemeinden, schrieb seine großartigen theologischen Briefe und erreichte schließlich sogar Rom. Effi Briest stirbt am Ende des Romans als junge Frau im Alter von gerade mal 30 Jahren. So unterschiedlich ist das Leben, so unterschiedlich das Sterben.

Wir bekommen keine Antwort, warum das eine Leben so und das andere Leben so verläuft. Wir bekommen keine Antwort, warum wir gleich, wenn wir die Namen unserer 68 Verstorbenen und deren Alter verlesen mal 99 Jahre hören werden und mal 21. Weil es keine Erklärung gibt, liebe Gemeinde.

Aber es gibt Trost. Den Trost, den Paulus und Bonhoeffer und literarisch jedenfalls Effi Briest erfahren haben. Den Trost, der mich und der viele durchs Leben trägt. - Werde ich, egal, was kommt, gehalten sein? – Ja, Gottes Kind, du wirst. – Werde ich am Ende in nicht tiefer fallen als in Gottes Hände? – Ja, Gottes Kind, du wirst. – Werde ich trotz meiner Fehler, meiner Schwächen, meiner Sünden, in den Himmel kommen? – Ja, Gottes Kind, du wirst. Um Jesu willen. Christus ist dein Leben. Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Das Beispiel von Effi Briest habe ich zum Teil wörtlich von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler übernommen (Pfarrerblatt 11/2018) und sie hat es wiederum vom Martin Nicol, Grundwissen Praktische Theologie.