Ein kleiner Engel gehört seit ungefähr 550 Jahren zur Wendelsteiner St.-Georgs-Kirche. Er hat heute seinen Platz am Eingang des Chorraums, steht etwa auf Augenhöhe auf einem Mauersockel. Ungefähr einen halben Meter ist er groß, mit einem weißen Gewand und eleganten, schmalen Flügeln. In den Händen hält er einen Kerzenleuchter. Die Wendelsteiner kennen ihn als ihren „Taufengel“.
Ein feines Lächeln liegt auf seinen Lippen. Ein Auge ruht auf dem Altarraum und dem Taufstein, das andere wendet sich gen Himmel. Ein bisschen Silberblick, ein bisschen verklärt, so schaut er, der Taufengel. Aber durchaus auch mit einer gewissen Erdverbundenheit. So schnell kann diesen Engel nichts erschüttern.
Das ist auch gut so, denn unser Engel hat schon einiges hinter sich. Herumgeschubst, verstaubt, ramponiert, ohne richtigen Platz im Leben. Wo er ursprünglich mal in der Kirche war, weiß keiner. Vielleicht war er mal Bestandteil eines gotischen Altars, der aber schon längst nicht mehr existiert. Irgendwann schien er jedenfalls nicht mehr so recht in die Kirche zu passen. Unmodern. Er wurde ausgemustert, landete zum Schluss auf dem Dachboden. Da lag er jahrzehnte-, vielleicht sogar jahrhundertelang. Verstaubt, verkratzt, ein Flügel fehlte.
Vor ungefähr 90 Jahren wurde er wieder entdeckt. Man holte ihm vom Speicher, möbelte ihn ein bisschen auf, und stellte ihn wieder in die Kirche. Eine Weile zierte er den Deckel des Taufbeckens, das passte aber auch nicht so recht. Wieder wurde er herumgeschoben, irgendwie war er immer im Weg.
Bis er endlich seinen jetzigen Platz bekommen hat. Nach 500 Jahren: Endlich angekommen! Dort hat er alles im Blick, hat einen Platz, der nur ihm gehört und steht, wenn man so will, ganz nah bei Gott.
Ich mag diesen kleinen Engel – mit seinem Blick zum Himmel und zur Erde zugleich. Mit seinem gelassenen Lächeln. Mit dem Wissen: Irgendwann, irgendwie wird’s schon gut.
Gerade begegnen mir so viele Menschen, die ziemlich gebeutelt sind. Alle haben wir doch gehofft: Dieses Weihnachten wird besser als letztes. Wir werden uns wieder unbefangen treffen können, wir werden die Adventszeit ganz neu genießen können. Die Realität sieht anders aus, der Umgang mit Corona bestimmt immer noch unseren Alltag. Viele verkriechen sich. Die Kinder und Jugendlichen passen nirgends hin und werden dauernd hin- und her geschoben. Mancher versucht nach bestem Wissen und Gewissen, sich zu schützen und wird trotzdem krank. All das hinterlässt Spuren. Unweigerlich bekommt die Seele den ein oder anderen Kratzer oder größere Macken ab.
Manchmal scheint dann Gott fern. Aber: „Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen!“ (Psalm 91,11) Er hat es versprochen, auf allen Wegen — gleich, ob einfach oder schwierig.
Der Wendelsteiner Taufengel scheint mir das manchmal mit seinem kleinen Lächeln zuzuflüstern. So, als wollte er sagen: „Gott hat es versprochen, dass er da ist. Er hat nicht gesagt, dass immer alles einfach sein wird. Kann schon sein, dass es manchmal holprig ist. Aber egal, wie mühsam es ist: Allein bist du nie. Und wenn du es nicht glaubst: Schau mich an. Ich muss es ja wissen.“
Ihnen wünsche ich einen kleinen Engel, der Ihnen in diesen Adventswochen ein Lächeln schenkt, und damit: Die Gewissheit, dass Gott an unsere Seite kommt. Eine gesegnete Zeit wünscht Ihnen
Ihre Johanna Graeff